Königin Utopia (very happy ending)

1750

Ich erzähle dir von meiner Reise, Kind. Setz dich und hör deiner Mutter zu.

Wir sind an Elbe und Donau entlang, mein Bruder und ich.

Wir kamen eines Abends in ein Dorf, fanden keine Bleibe und schlichen uns in eine Scheune. Unterm Dach auf dem Heuoden schliefen wir sofort ein.

Das war der stillste Ort, an dem ich je war. 

Mittags weckte mich die Sonne. Da war dein Onkel fort, und ich kriegte einen Schreck. Aber als ich mich umdrehte, sah ich ihn: Von mir abgewandt saß er an der äußersten Kante des Bodens und schaute hinunter. Er sah aus, als wäre er in der Kirche, so in sich versunken. Als ich zu ihm kam, bedeutete er mir, leise zu sein. Unter uns saßen Menschen, ein seltsamer Haufen: Sie waren unterschiedlichster Größe, Hautfarbe, es waren Alte und Kinder. Überall stapelte sich Papier. Es musste schon am Vorabend da gewesen sein, war uns aber in der Dunkelheit nicht aufgefallen. Es türmte sich bis zum Dach. Die Münder der Menschen dort unten bewegten sich, sie sprachen leise, ihre Hände schrieben mit Federn auf dem Papier. Sie bemerkten uns nicht.

Bis dein Onkel, ich weiss nicht, was ihn ritt, mitten unter ihnen stand und fragte: „Was macht ihr?“ Obwohl er nicht laut sprach, konnte ich in der Stille jedes Wort hören.

„Wir erfinden Geschichten“, erwiderte ein Mädchen, das war nicht viel älter als du.

„Ihr erfindet Geschichten?“, fragte dein Onkel und lachte: „Habt ihr nichts Wichtigeres zu tun?“

Die Leute schauten ihn ernst an und er die Leute. Endlich rief ein alter Mann, der direkt unter mir saß: „Was könnte es denn Wichtigeres geben?“ und lachte seinerseits herzhaft, worin viele einstimmten. Das Lachen war so schön, dass es mich ansteckte und einige drehten sich um und zeigten auf mich. „Was macht sie denn da oben?“

Nun traute ich mich hinunter und man hieß uns willkommen. 

Die Menschen waren sehr freundlich. Wir blieben einige Tage dort und lernten ihr Leben kennen, doch wir verstanden die Leute nicht. Sie schrieben alles auf, was sie wussten und dachten. Von Kunst und Geschichte und Wissenschaft. Sie sagten, nichts darf verloren gehen. 

Wir waren in dem kleinen Reich einer Königin mit Namen Sophia angekommen. Sie herrschte seit vielen Jahren. Sie war nicht von Königlichem Blut, sondern wie wir zu Fuss gekommen. Nun lebte sie an einem Ort, der Augustusburg hieß. Und weil wir wissen wollten, wer die war, die ihre Untertanen zum Aufschreiben aller Geschichten zwang und sie damit so zufrieden machte, beschlossen wir, dorthin zu gehen.

Augustusburg

Am Tor der Stadt Augustusburg spielte ein Mann Musik und sang dazu. Wir baten ihn, uns über die Grenze zur Stadt zu lassen. 

„Wo seht ihr eine Grenze? Ich sehe nur Luft. Die könnt Ihr nennen, wie ihr wollt. Wenn die verlorene Freiheit euch nicht reut.“ Er lachte uns ins Gesicht. Und weil wir ihn nicht verstanden, winkte er uns durch: „Tore sind zum Durchschreiten da!“ 

Wir beeilten uns, von dem seltsamen singenden Kerl wegzukommen.

In einer engen Gasse schnitt ein Mann die Äste der Bäume vor seinem Haus. Wir sprachen ihn an: „Wir möchten die Herrscherin über diese Stadt sehen.“

„Den Herrscher seht ihr vor euch.“ Er wischte sich die schmutzigen Finger am schmutzigen Hemd ab. Wir schauten wieder sehr erstaunt. Da entdeckten wir eine Frau in der Tür des Hauses und sie sagte: „Auch mir gehört diese Stadt – und unseren Kindern, die ihr dort spielen seht.“

Wir sagten nichts.

„Macht euch keine Sorgen, wir mögen Fremde. Wir haben die beste Erfahrung gemacht“, sagte wieder der Mann und lud uns ein, in seine Stube zu kommen.

Wir waren jetzt sehr verwirrt und neugierig, meine liebe Tochter. 

Drin gab es Milch und Brot und süße Früchte. Wir erfuhren zu unserer Enttäuschung, dass die Königin Sophia verschwunden war. 

„Sie ist tot“, sagte der Mann.

„Sie bereist die Welt“, sagte die Frau. Dann erzählten sie uns die wunderbare Geschichte der Königin Sophia.

Sie wurde sehr jung von kurfürstlichen Gnaden gekrönt und herrschte über das kleinste Reich. 

„Der Kurfürst war verliebt in sie“, sagte die Frau und lächelte deinen Onkel an. 

„Doch sie war keine gute Herrscherin, kümmerte sich um nichts als die Liebe. Sie holte eine junge Frau zu sich auf die Burg, sie hiess L, war eine Künstlerin und tanzte auf dem Seil.“

Jeden Abend feierten sie ein Fest und alle waren eingeladen.

„Wir waren auch da! Da gab es köstlichen Wein!“, rief die Frau lachend und dein Onkel stimmte ein.

„Am schönsten fand ich die Geschichten, die wir uns im Morgengrauen erzählten“, sagte der Mann. „Die beiden hatten viel zu erzählen, sie waren weit gereist. Und sie hörten auch uns gerne zu.“

Die Frau stupste ihn: „Du lagst neben L und hieltst ihre Hand, das hat dir am besten gefallen! Zugehört hast du nie. Oder erinnerst du dich an die Klagen?“

Er küsste seine Frau auf die Stirn und sagte, dass er sich erinnere, dass damals Menschen Sorgen hatten, dass sie müde und oft hungrig waren. Dass sie um Hilfe baten. 

„Einmal sprang die Königin auf und rief: Woher soll ich wissen, wie euch geholfen ist! Ich wünschte, ihr würdet mir das alles nicht erzählen! Ich bin nur ein Mädchen, mir wäre lieber, ihr löstet eure Probleme einfach selbst!“ 

Das war eine traurige Stunde. In der gingen auch die Weinvorräte des Schlosses zur Neige.

„Aber es geschah etwas wunderbares“, der Mann flüsterte fast, als er das sagte. Denn die Menschen wussten, was helfen könnte. „Die Bäuerin nämlich kennt ihren Acker selbst am besten, und ein Jäger kennt seinen Wald. Wir erklärten der Königin, was zu tun war.“

„Natürlich hatten wir Angst! Wir sprachen immer lauter von allem, was zu ändern sei. Aber sie warf uns nicht in den Kerker. Sie half uns!“

Die Söhne stahlen das Wild aus königlichen Wäldern, weil die Familien Steuer zahlen und selbst hungern mussten. So erließ Sophia die Steuer. 

„Da fielen uns viele Sachen ein, über die wir noch nie nachgedacht hatten. Alle versuchten etwas Neues, lernten dazu. Bald ging es den Menschen besser.“

Und damit ihr Wissen nicht verloren ginge, schrieben sie es auf. 

„Wir sollten schreiben lernen, aber das ist nicht so leicht!“, rief der Mann.

„Du bist eben zu alt“, sagte die Frau liebevoll. „Aber unsere Kinder können es gut.“

Wenn es Streit gab, rief Königin Sophia die ganze Nachbarschaft zusammen, um den Konflikt zu lösen. Meistens schwieg sie selbst und hörte nur zu, bis die Zerstrittenen einen Ausweg fanden. So trafen sich die Menschen bald selbst, um ihren Streit zu schlichten. Sie brauchten die Königin nicht mehr dafür.

„Wir hatten alle viel zu tun, unsere Stadt zu formen“, sagte die Frau und klang nun traurig. „Und wir merkten nicht… Irgendwann war Sophia weg. Es gab keine Erklärung.“

„Ich kenne keine Königin“, sagte nun die jüngste Tochter am Tisch. „Und ich weiss gar nicht, wozu ich eine brauchen könnte!“

Als ich dieses mutige Mädchen anschaute, habe ich dich furchtbar vermisst und mir blieb nichts anderes, als ganz schnell zu dir zu kommen, und dir alles zu erzählen.

Dein Onkel war nicht zu bewegen. Und vielleicht wandern wir gemeinsam einmal dort hin und besuchen ihn. In der wunderschönen Stadt Augustusburg.