Von einer die auszog, ein anderer zu werden.
Die Flucht
Die ganze Zeit Wald, nix als Wald, die Füsse tun weh – wie viele Tage wandert sie schon?
Irgendwie ist auch die Richtung weg, wo wollte sie hin, sie müsste doch längst –
Rascheln im Wald hinter ihr heisst Gefahr. Angeblich Bären. Reiche Leute halten sich Bären zum Spaß, zum Jagen. Entwischen hungrige Bären, jagen sie arme Leute. Nicht zum Spaß, zum Fressen. Fressen. Sie will auch Fressen. Wann hatte sie das letzte Mal was im Magen? Gestern nicht, ganz sicher.
Irgendwo ist Wasser, da will sie hin. Der Abhang ist steil, sie tritt gegen lose Steine. Die poltern ins Tal – um mich zu verraten. Ob sie mich suchen? Kurz wünscht sie, so wärs.
Vertrau deinen Ohren und Händen. Taste vor jedem Schritt den Boden ab. Sie findet kühle Steine, prüft deren Halt. Ab und zu fällt einer. Klonk. Dort wird schon keiner geh’n. Die normalen Leute schlafen jetzt. Geh weiter. Sie liebt den Wald. „Wald, ich mag dich.“ bitte seid gnädig mit mir. Du bist wie ein Kind, denkt sie. Aber ihre Kindheit ist vorbei. Seit – ja, seit wann?
Seit sie den Rock und die schmutzige Schürze zuhause ließ.
Seit sie von Vater stahl, seinen besten Anzug.
Seit sie diese Hose trägt, die zu lang ist, über die sie stolpert.
Seit sie kein Mädchen mehr ist.
Unter ihr plötzlich ein schwarzes Loch ist eine Höhle. Langsam klettert sie, riecht Moderluft. Sie hat viel in Höhlen gespielt. Vorbei. Brüderchens Gesicht, sein Lachen, das Höhlenerforschen und seine Angst nie wieder heraus zu kommen! Sie lockt Brüderchen an die dunkelsten Stellen, wird ganz still, beobachtet. Aber weinen lässt sie ihn nicht. Vorher hält sie ihn lieb und fest im Arm.
Sie ist in der Höhle, draußen raschelt der Wind. Es gibt ein Draußen. Das ist gut. Das fühlt sich sicher an. Der Fels ist wärmer als erwartet.
Sie legt sich in Vaters Mantel wie in ein Federbett, was reiche Leute haben. Wie in eine Umarmung, was Leute mit Zuhause haben. Der riecht noch wie Vater. Sie träumt vom Wegrennen.
Endlich ein Dorf. Hier gehen Menschen ihrem Geschäft nach, handeln, schreien. Auf dem Markt ist der Hunger unerträglich. Sie stiehlt einen Apfel. Er schmeckt wie der erste Apfel, als sie ihn heimlich isst.
Der zweite Diebstahl! Nicht mehr stehlen. Sie beobachtet: Schweiss, Geld, Fleisch, Kot auf dem Marktplatz. Und einen Friseur. Sie entschliesst, ihren langen Zopf loszuwerden.
Seine Dienste sind nicht gratis dafür nimmt er sie als Helferin. So schwer kann es nicht sein: Etwas abschneiden. Doch, es ist schwierig. Die Ausbildung ist kurz. Gejagt von wütendem Geschrei verunstalteter Dörfler*innen flieht sie zwei Tage später in den Wald. Ohne Zopf. Im Unterholz kauernd um Atmen kämpfend. Die Wange brennt von einer Ohrfeige.
Das neuste Geklaute, Geld aus der Meisterbüchse, brennt in der Tasche. Zwei Tage waren es wert. Sie hat ihr Ziel. Sie will mehr von den schweren Münzen. Sie wird Arbeiten, wird sich ein Messer kaufen. Und Seife. So großartig fühlt sich nur der König von Sachsen. Wenn der einer wäre –
Eine Zeit lang geht sie von Dorf zu Dorf. Wenn jemand vor ihr sitzt, sagt sie sich Haare wachsen nach und schneidet. Dass sie wenig kann, ist egal. Wichtig ist nicht, Haare und Bärte zu kürzen, sondern das Zuhören. Sie kann sich ein angenehmes Leben machen, wenn sie sich die Sorgen der Leute anhört. Das ist ihre Pflicht als Friseur. Als wandernder Friseurgeselle.
Mein Ohr ernährt meinen Magen. Das Gewissen gibt den Löffel ab, die Leute sind dumm. Niemand merkt, dass sie lügt. Das macht Freude. Alle sehen nur sich selbst und wollen ihr lieber glauben, als über sie nachdenken. Sie hört zu und vergisst selbst, wer sie war. Dass sie ein Mädchen war. Dass sie keinen neuen Namen hat. Sie kann sich selbst nicht taufen. Brüderchen könnte. Was wehtat zu erinnern, wird ein Stück Vergessen jeden Tag. Weggelegt, was sie nicht mehr braucht. Das hilft. Dabei vergisst sie, wer sie war. Und damit, wohin sie wollte. Aber dass sie nicht heim kann, vergisst sie nicht.
Du bist die, die von zuhause fortging.
Die, die niemand anderes werden wollte.
Die, die nicht weiss, wer.
Die, die einen Kerl gibt.
Die, die kein Kerl ist.
Die, die nichts hat.
Die, die die ist?
Die, die der ist!
Die, die das ist.
Die, die geht.
Es, das geht.
Es geht weiter. Nächste Woche.