Lieschens Liebe
Eines Tages kommt es in eine Stadt. Der Sommer brennt. Es kehrt in einem Gasthaus ein. Die Wirtin verlangt die Zahlung im Voraus und als sie den Beutel sieht, in dem es seine Taler verwahrt, flüstert sie: „Pass mo lieber drauf auf. Hier sind so Leutchen vom Zirkus, fahr’ndes Volk. Benutz das als Kissen, schlag ich vor. Hamr eh nich.“ Sie lacht eine feiste Freude: „Dankeschön für die Taler!“
Müde legt es sich mitten am Tag in einer Kammer hin. Wo wollte es hin? Es ist nicht mehr sicher. Die Tage sind gleich geworden, denkt es, bevor es den gleichen Traum wie immer träumt.
Lautes Rufen weckt es auf und das Klingeln von Musik. Draußen dämmert der Tag weg. Hungrig schleicht es in die Kneipe. Die Tische sind alle besetzt, das muss das fahrende Volk sein. Es ist jung und laut und am Tresen sitzt tatsächlich einer und singt mit voller Stimme. Es staunt über die Lieder und die unbekannte Sprache. Es vergisst den Hunger und schaut, und frisst die Menschen und ihre Musik mit seinen Ohren auf.
Hier drin ist es heißer als draußen, wo man langsam erste Sterne sehen könnte. Aber das ist unwichtig.
Sie fangen an zu tanzen. Unterm Tisch prügeln sich laut ein paar Hunde. Die Luft wird schwer und süß. Der Türrahmen klebt an seinem Hemd und das Hemd an ihm. Vaters Anzug ist zu warm.
„Du, tanz mit mir“,
sagt eine mit roten Wangen neben ihm. Sie ist noch kleiner als es und sein Blick fällt zuerst auf ihre geflochtenen und wie eine Schlange um ihren Kopf gelegten Haare. Daraus wurschteln sich Strähnen hervor. Aber ihre Augen sind dunkel und bunte Bilder darin. Sie nimmt seine Hand. „Ich bin L-„, hört es sie sagen, weiter versteht es nichts, weil jemand schreit oder flucht oder jubelt. Vier kleine Hände, die tanzen. Haut berührt Haut und es erinnert sich, wie das ging. Bald springen die Füsse wie wild durch die Menge. Geschubst werden sie, die zwei kleinen, und lachen und schwitzen. Sie riechen bald wie ein altes Weinfass, so wie der ganze Gasthof riecht, wie jeder Balken und jeder Schuh – zu Musik wird ein großer Gärungsprozess. Es denkt, wir werden ein süßer Wein. Es greift immer wieder nach dieser Hand, die es dreht. Mal sind sie oben, dann unten. Dann gibt es keine Richtungen mehr. Nur die dunklen Augen und bunte Farben darin. Die Nacht trägt sie fort.
Aber dann gibt es ihn doch, den Morgen. Er fällt so hell auf sein Gesicht dass es schmerzt. Es erwacht irgendwo im Gras und atmet die Welt ein. Halb von ihm abgewandt ein heller Nacken und es weiß, zu wem er gehört. Es ist der vertrauteste Nacken auf der Welt und der schönste. Kleine Häärchen glänzen im Licht. Es zählt sie.
Bei dreihundertvierundsechzig bewegt sie sich und schaut es an. Die schwarzen Augen sind fast still.
„Du bist ja noch da“, sagt L.
„Du bist ja echt“, sagt sie.
Sie lachen. Das wird ein guter Tag, weiß es und geht nicht zum Markt. Es wird nicht arbeiten, es bestellt lieber Bier, das sie teilen. Als sie Hand in Hand über den Marktplatz spazieren, stellt es sich vor, bei ihr zu bleiben. Aber es weiss, dass sie immer weggehen wird. Also spazieren sie und schweigen.
Abends legen sie sich wieder unter den Baum, sind wie zwei kleine Tiere. Der Mond.
„Ich liebe dich. Nimm mich zur Frau,“ sagt L.
Natürlich kann es das nicht, wie soll das gehen. Und muss drum fort und wandert wieder allein.
Es wandert über Hügel und Täler. Wälder, Grün und Sommer. Dörfer und pralle Obstgärten. Vor jedem Haus ein Apfelbaum und ein Huhn. Manchmal stiehlt es einen Apfel, selten ein Ei. Ab und zu traut es sich zu arbeiten, wird besser darin, tut nur das Nötigste, denn die Natur bietet so viel, dass es keinen Grund gibt, sich für Lohn zu gefährden und zu lügen. So lebt und wandert es über einen festen Boden, im Kopf ein sich verflüchtigendes Bild vom Reichtum.
Der Kammerrat
Gegen Herbst kommt eine Burg in Sicht. Da ist es schon kühler und es weiß, dass es wieder arbeiten sollte. Auf einem Marktplatz baut es Hocker und Köfferchen auf und blickt zur Burg. Das ist eine gute Aussicht, eine, die Träume entfacht.
„Ihr macht Haarschnitte?“, spricht ein krummer Mann mit schönen Kleidern es von der Seite an. „Haarschnitte und Bärte.“ Er sitzt, es sagt sich sein Sprüchlein vom Nachwachsen der Haare auf und schneidet. Er schaut es an, das spürt es, er beobachtet jede Bewegung. Es ekelt sich seltsam vor dem Mann, der fragt:
„Ihr übet das Gewerbe nicht lange aus?“
„Nein“, sagt es, froh nicht zu lügen. Überhaupt: keine Lügen mehr.
„Ist ja auch noch jung.“ Dieser eklige Mann, dessen Sprache sich rollig um sich selber kringelt, als würd seine Zunge sich selbst streicheln. Es beeilt sich. Als es fertig ist, freut er sich: „Schlecht gemacht, sehr schlecht.“ Er lacht. „Doch was ist schon mein Haarschnitt wert, ich leiste mir Perücken. Vielleicht möchtet Ihr sie Euch einmal ansehen, werter…“
„Lies – “ sagt es, aber unterbricht sich aber gerade sich noch rechtzeitig.
„Alois? Soso. Also, Alois. Auf der Burg wohne ich und würde Euch meine Perrückensammlung gern zeigen und vielleicht wollt Ihr danach Euren Magen füllen? Hungrig seht ihr aus, Alois.“
Es kann es nicht glauben: Er hat ihm einen neuen Namen gegeben! Mit welchem Recht?
„Oh, nicht dass ihr denkt, ich spiele mich auf. Ich bin ein einfacher Kammerrat. Mein Name ist Volkmar. Ich freue mich, wenn Ihr ihn im Gedächtnis behaltet, meinen Namen, mein ich. Vielleicht zeigt ihr euch einmal erkenntlich?“ Er streichelt seinen Bauch. „Ich bin beauftragt, alle von kurfürstlichem Geblüt zu versorgen mit allem, was die reich gefüllten Kammern hergeben.“
Es fragt sich, was ein Kammerrat ist. Der Mann ist seltsam freundlich, warum? „Folgt mir zur Burg, ich bitte Euch. Zur Augustusburg“, er zwinkert: „Nennt sie die Eure!“ Und eh Alois jetzt mit neuem Namen dem Kammerrat sagen kann, dass er sich vor ihm ekelt, hat er das schon vergessen. Oder eher verschoben, auf morgen. Er ist zu sehr mit den eigenen Gedanken beschäftigt: Er ist ein er? Und sitzt neben Volkmar in der Kutsche mit Viergespann. Sie ist so goldig, da musste er einsteigen. Er schaut aus dem Fenster und klammert sich an sein Hab und Gut.
Der Berg wird immer steiler, die weiten Wälder verstecken sich hinter Häusern, die sich dicht gedrängt an den Berg klammern. Die Pferde schnaufen und Menschen gucken aus Türen und Fenstern, laufen neben der Kutsche her. Schmutzige Gesichter, wie seines, müde Gesichter.
Morgen muss er weiter, er muss sich erklären. Aber zuerst braucht er Schlaf. Dann wird er alles klar sehen, und aufklären. Was auch immer das für ein seltsamer Irrtum ist. Oder vielleicht träumt er? Dann hätte sich morgen alles von selbst erledigt, das wäre ihm am liebsten.
„Spielt die Fanfaren zum Einzug des Prinzen! Treibt alles zusammen! Bringt Bier, Wein, Holz und Futter für die Pferde!“ Ruft Volkmar sich vor Wollust überschlagend. Alois findet ihn jetzt lustig. „Der Kurprinz ist zu Gast in Augustusburg!“ Was für ein schöner Traum.